In einer Welt, in der Musik nahezu überall verfügbar ist und Klänge allgegenwärtig sind, ist es fast unmöglich geworden, dass ein Werk heraussticht, weil es sich unerhört anhört, weil es einen beim Zuhören erst fordert, dann fasziniert und schließlich begeistert. Die sechs Sonaten für Solovioline von Eugène Ysaÿe (1858–1931) sind ein derartiges Werk. Schroff, melodisch, dramatisch, klar. Zu Lebzeiten war der Belgier einer der bekanntesten Geiger der Welt, er gilt als Pionier des modernen Spiels.
Geschult am Vorbild von Johann Sebastian Bach komponierte er 1923 sechs Geigensonaten, die, so seine Interpretin, die US-Amerikanerin Hilary Hahn, »berühmt-berüchtigt und unglaublich kompliziert« sind: »Sie haben Generationen von Geigern geprägt und sind eine wunderbare Hommage an das Instrument.« Der Legende nach hat Ysaÿe die Musikstücke in nur einer Nacht entworfen. Das ist wohl nicht wahr – aber wer liebt sie nicht, die Geschichte vom Künstler im Schaffensrausch?
Für die Aufnahme (»Six Sonatas for Violin Solo«, Deutsche Grammophon) brauchte die 43-jährige Hahn etwas mehr Zeit, sieben Wochen: »Diese Sonaten haben etwas Hypnotisches«, sagt sie, »und wenn ich nach einem Tag im Studio in die kalte Winterluft hinaustrat, war ich wie benommen, und in meinem Kopf rauschte es von all den Tönen, die durch mein Kinn vibriert waren; ein Klangbad, wie man es sich großartiger nicht vorstellen kann.«
Vision ihrer eigenen Zukunft
Als die Geigerin klein war, hat sie mal ein Bild gemalt, das einen Strand zeigte, darüber ein Flugzeug mit Banner: »Kommen Sie und hören Sie Hilary Hahn in der Carnegie Hall.« Es war offenbar eine Vision ihrer eigenen Zukunft. Heute ist sie weltberühmt.
Begonnen hatte sie mit dem Geigespiel mit drei Jahren, mit sechs trat sie erstmals öffentlich auf, und mit zehn gab sie ihr erstes Solokonzert. Im selben Jahr dann wurde sie erstmals von Jascha Brodsky unterrichtet, der selbst noch bei Eugène Ysaÿe gelernt hatte.
Und auch Ysaÿe selbst stand in einer großen Tradition: 1878 war er in Deutschland mit Clara Schumann aufgetreten. Später reiste er geigend durch die Welt, Debussy, Saint-Saëns, Elgar und Fauré widmeten ihm Werke.